SCOTT Genius LT 700 Plus Tuned – Zwischenstand: von c_g

Gerade einmal 10 Tage haben wir das Genius LT Plus Tuned im Test, aber seither hat es schon so allerhand unter uns durchgemacht. Logisch, denn ein solches Bike will man einfach nicht lange ungefahren stehen lassen – egal wie das Wetter auch war, wurde es täglich und standesgemäß ausgeführt …

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Mit dem schwarz-orangen Design hat SCOTT ein Bike mit sehr großem Wiedererkennungswert geschaffen … das außerdem auch noch sehr gut aussieht :-).

Wir haben euch ja im Intro schon über die ganzen spannenden technischen Finessen berichtet – sei es der edle HMX-Carbon-Hauptrahmen mit plus-fähigem Alu-Hinterbau, die spezielle Federungstechnologie mit dem Fox Float Nude DPS Dämpfer oder die simultane Ansteuerung beider Federelemente über den Twin-Loc Hebel. Auch, dass das Genius LT Plus Tuned mit seinen 160 mm Federweg nicht nur das vermutlich langlebigste Plus-Bike, sondern damit eben auch das potentiell langhubigste 29er ist … doch dazu an anderer Stelle noch mehr.

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Jetzt soll es erstmal um die ersten Eindrücke auf dem Trail gehen.

Das Set-Up des Bikes war recht unauffällig – mit dem empfohlenen Sag von 30% hinten und 20-25% an der Gabel und weit offener Zugstufendämpfung ging es dann auch schon los.

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Mit dem SCOTT kan man es bergab richtig krachen lassen. Ich habe mich bis jetzt schon mehrfach gewundert, was man damit alles machen kann ohne seine Grenzen zu erreichen.

Rahmengröße und Sitzposition: Nachdem ich größentechnisch genau zwischen dem Rahmen in M und L stehe, habe ich mich bei diesem Bike bewußt für die kleinere Version entschieden – einfach um mit dem kompakteren Rahmen etwas mehr die All-Mountain-Seite zu ergründen. Eine gute Entscheidung wie ich mittlerweile finde, denn auch so ist das Bike bereits laufruhig und sicher genug. Mit einem 600 mm Oberrohr ist der Rahmen ohnehin im Normalbereich für meinen 1,83 m Körper mit normalen Proportionen. Trotzdem, durch den kurzen 50 mm Vorbau wirkt die effektive Sitzposition die tendenziell eher kompakt ausfällt – nicht unangenehm, aber eben kompakt.

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Handling und Fahrverhalten:

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Unscheinbar in der hinteren Dampferaufnahme versteckt erlaubt der Exzenter im Flip-Chip, den Charakter des Bikes ein wenig zu tunen – hier schon in der gemäßigteren „High“-Position.

Umso überraschter war ich dann, als sich das Genius LT Plus so gar nicht agil lenken lassen wollte, zudem eine spürbar hecklastige Sitzposition hatte und zu allem Überfluss unter auffallen häufige „Pedal-Strikes“ auf meinen Wurzeltrails litt. Der Grund hierfür lag daran, dass mir das Bike mit dem Flip-Chip aus der „LOW-Position“ ausgeliefert worden war. Kein Zweifel, wer mit Maximum-Speed die Hänge runterdüst, wer eher schnelle offene Strecken fährt oder generell dem derzeitigen Trend nach „flacher und laufruhiger“ anhängt, der wird diese Position lieben, denn sie vermittelt unglaublich viel subjektive Sicherheit bei hohen Geschwindigkeiten. Mir war das Bike so für meine eher verwinkelten Trails aber einfach ein wenig zu behäbig und vor allem zu hecklastig. Bergauf kommt somit so viel Gewicht auf das Heck, dass dieses recht tief einsinkt und so auch vorne schnell leicht wird. Was die Kletterfähigkeit angeht, lässt sich die Sache dank des Twin-Loc Hebels (mehr dazu weiter unten) sehr einfach beheben, aber nachdem auch das Handling mir so zu träge war, habe ich nach ein paar Ausfahrten den Flipchip umgedreht – es dauert gerade mal 5 min und erfordert lediglich zwei TX25 Tox-Schlüssel ….

Und tatsächlich mit dem gerade mal 8 mm höherem Tretlager und einem um 0,7° steileren Sitz- und Lenkwinkel wurde das Genius LT zu genau dem Bike, wie ich es mir für meine Trails wünsche. Die Änderung war in diversen Bereichen zu spüren und hat den Charakter des Bikes viel universeller gemacht:

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Schnell und sehr laufruhig oder vielseitig – mit dem kleinen, aber feinen Flip.ip kann man den Charakter des Genie sinnvoll variieren.

Zum einen saß ich jetzt sehr zentriert im Bike, was sich zusammen mit den steileren Winkeln schon in der Ebene durch ein agileres Handling auszeichnet. Bergauf war es noch deutlicher zu spüren. In der „High“-Position kann man beim Genius LT auch mit komplett offenem Hinterbau noch gut klettern. Alle Aufbäumtendenzen waren wie weggeblasen. Selbstverständlich lässt sich auch hier die Physik nicht übertölpeln und das Heck taucht bei insgesamt 160mm zur Verfügung stehendem Federweg noch spürbar ein, aber der 2016er FOX DPS Dämpfer mit EVOL Kammer (hier eben in der SCOTT NUDE Sonderversion) leiste auch hier bemerkenswertes um ein allzu tiefes Absacken zu verhindern. Wenn auch in der „High“-Position des Flip-Chip weit weniger notwendig, liegt der Twin-Loc Hebel trotzdem so handlich und griffbereit, dass man ihn auch dann noch für kurze Anstiege nutzt um den Hinterbau zu straffen. Mit dem Dämpfer im strafferen Traction-Modus kommt man so absolut gelassen selbst die steilsten Anstiege hoch.

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Die Plus-Reifen und ihre Eigenschaften:

Das Besondere und Kennzeichen eines Plus-Bikes sind natürlich die überbreiten Reifen – bei SCOTT in Form der 2.8“ breiten SCHWALBE Nobby Nic Reifen, die ich anfangs mit 1,1 bar vorne und 1,2 bar hinten gefahren bin. An Traktion fehlt es dem Bike damit erwartungsgemäß nur selten. 70 SCOTT Genius LT PlusFür Fahrer, die zum ersten Mal ein solches Bike fahren, ist das Gefühl und die subjektive Sicherheit dadurch einfach nur überwältigend. Nachdem ich in den letzten Monaten aber bereits mehrfach Plus-Bikes gefahren bin und auch sonst sehr viel mit Procore bei ähnlich niedrigen Drücken unterwegs war, ist es fast schon normal – sehr cool und mit hohem Spaßfaktor, aber das grundlegende Fahrgefühl ist recht ähnlich.
Klar ist, bei Drücken zwischen 0,9 und 1,2 bar leisten die Reifen bemerkenswertes. Man kommt damit fast überall gelassen hoch und auch wieder runter. Die Performance ist aber druckabhängig. Gerade bei Drücken am unteren Ende des für mich optimalen Spektrums, also zwischen 0,9 und 1,0 bar ist der vom Fatbike bekannte Self-Steering-Effekt auf hartem Untergrund durchaus präsent und für mich auch störend – etwas, was mir seinerzeit bei meiner Runde mit dem Genius Plus Tuned nicht aufgefallen ist. Erhöht man den Druck auf über 1 bar reduziert sich der Effekt. Ganz verschwinden tut das Self-Steering aber leider nie, auch wenn SCOTT genau deswegen ja auf die schmäleren 2,8“er gesetzt hat.

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Auch Nightrides auf nassem Herbstlaub gehörten bereits zum Testrepertoire des Genius LT.

Im Gelände ist davon aber wenig bis nichts zu spüren. Je „MTB-würdiger“ das Gelände, desto unauffälliger fährt sich  das Genius LT. Nur auf richtig harten Böden und auf der Strasse ist das Self-Steering schlichtweg nicht zu leugnen. Bis jetzt habe mich zwar fast daran gewöhnt, aber gerade, wenn ich man wieder nach einer Runde mit einem normalen 29er aufs Plusbike wechsle, ist das Gefühl wieder sehr präsent.
Ganz allgemein ist das Fahrgefühl mit den Plus-Reifen sehr satt und traktionsstark – je nach gewähltem Druck mal sanfter und mit weniger Feedback oder eben auch etwas direkter und sportlicher. Generell muss man sich aber schon bewusst danebenbenehmen um die Traktion unter normalen Bedingungen abreißen zu lassen.
Was die Reifenstabilität angeht waren die 40 mm breite SYNCROS Felge eine gute Wahl. Egal ob bei 1,1 oder bis 0,95 bar, konnte ich bisher keine Fahrsituation verzeichnen, in welcher der Reifen sich schwammig angefühlt hätte oder man ein Abknicken gespürt hätte.

Eine weitere Eigenheit der Plus-Reifen, oder zumindest des hier gefahrenen Nobby Nic 2.8 ist etwas, das sich wie ein zu weicher Hinterbau anfühlt. Vermutlich ist es der Reifen, der bei spitzwinklig Hinternissen sich zuerst deformiert und dann je nachdem entweder das Hinderniss überwindet oder eben seitlich abprallt. Nichts was ein normaler Reifen nicht auch auf dem Trail macht, nur mit den dicken Reifen ergibt sich so ein Gefühl das sich am ehestem mit einem zu weichen Hinterbau beschreiben lässt. Komisch, aber am sehr steifen Hinterbau bzw. den ebenso präzisen Laufrädern selber liegt es jedenfalls sicher nicht. Ich werde das im weiteren Verlauf des Tests noch genauer beobachten.

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Federung und ihre Performance:

Und damit kommen wir zu dem, was das SCOTT Genius grundlegend von seinen Konkurrenten unterschiedet: Die eigenständige Federung aus FOX Nude DPS Dämpfer und dem Twin-Loc Hebel – beim Genius LT mit üppigen 160 mm an Front und Heck.

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Wurzelteppiche und ruppiges Gelände meistert das SCOTT Genius LT Plus Tuned mit einem entspannten Lächeln.

Mit offenem Dämpfer und offener Gabel (= „Open Modus“) ist das Genius LT bergab ein unglaublich fähiges All-Mountain, das ich ohne rot zu werden auch gut als Enduro-Bike bezeichnen möchte. Der Federweg wird optimal ausgenutzt und man gleitet über Wurzeln und ruppige Trails genauso wie es nur die besten Mitbewerber schaffen. Auch Sprünge ins Flache und unsaubere Landungen verzeiht einem das Fahrwerk, wie es für ein Bike mit 160 mm nicht unbedingt selbstverständlich ist. Hut ab, was das Genius LT bergab zu leisten vermag!
Die FOX Float 36 ist auch mit der hier verbauten FIT4 Kartusche sehr ähnlich dem, was ich von einer gut eingestellten Float 36 mit LSC/HSC kenne – kein Komfortwunder sondern sportlich straff, aber wenn man dem Bike die Sporen gibt einfach nur genial.
Ebenfalls interessant: Ich konnte keine echten Eigenheiten ausmachen was das optimale Set-Up von Gabel und Dämpfer mit den Plus-Reifen angeht. Bisher scheint es, dass man mit dem Standard-Setup in der Federhärte und der Dämpfung bereits eine sehr gute Federungsperformance erreicht. Es kann zwar sein, dass SCOTT sich schon darum gekümmert hat, aber darüber werden wir im zweiten Teil des Tests noch mehr erfahren.

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Im „Traction-Modus“ verhärtet sich nicht nur die Federung, vielmehr scheint sich das Heck sogar ein wenig unter einem aufzurichten. Man spürt sehr wohl, dass man es mit einer strafferen Druckstufendämpfung zu tun hat – wie bei allen anderen Bikes auch – aber zusätzlich eben auch, dass das Heck dann mit einer kleineren Luftkammervolumen arbeitet und sich damit spürbar progressiver anfühlt. Vorne schaltet die Gabel lediglich auf eine etwas straffere Low-Speed-Druckstufe und wird so einfach nur langsamer.
Die Aussage von SCOTT, dass einem in diesem Modus nur 100 mm Federweg zur Verfügung stehen, möchte ich allerdings verneinen – der nutzbare Federweg ist zwar reduziert, aber an die 120-130 mm bleiben dennoch, die man damit im Gelände ausnutzt. Genug um damit auch auf gemäßigten Trails sehr wohl komfortabel voran zu kommen. Gut übrigens, denn so wird das Genius LT im Traction-Modus zum wunderbar effizienten und vielseitigen Trailbike.

Der sogenannte „Lockout-Modus“ ist sehr straff – zwar kein wirklich starrer Lockout, aber doch so straff genug, dass ich ihn bisher eigentlich nur ganz selten auf der Strasse genutzt habe.

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Der Twin-Loc Hebel ist sicher eine der Kerntechnologien, die das Genius so vielseitig machen. Für meinen Geschmack liegt er nur etwas zu weit außen und schränkt so im Gelände ein wenig die Bewegungsfreiheit der Hand ein.

Der SCOTT-eigene Twin-Loc Hebel ist natürlich das Herzstück und die ergonomische Schnittstelle dabei. Allein dadurch, dass er so gut erreichbar ist, lernt man sehr schnell ganz intuitiv zwischen den Stufen hin und her zu schalten und somit stets das optimale Set-Up zu fahren. Anfangs war ich skeptisch wegen der simultanen Ansteuerung von Gabel und Dämpfer: Aus der Erfahrung heraus stelle ich weit öfter nur den Dämpfer straff  und fahre die Gabel fast immer offen. Diese Kritik muss das Twin-Loc System automatisch über sich ergehen lassen. Tatsächlich fand ich es nicht so optimal, dass auch die die Gabel sich im Traction Modus so stark verhärtet. Doch auch für diese Kritik auf hohem Niveau hat das SCOTT Genius quasi eine Work-Around-Lösung:
24 SCOTT Genius LT PlusMehr durch Zufall bin ich nämlich darauf gestoßen, dass man mit den kleinen Rändelschrauben am Twin-Loc Hebel, den jeweiligen Effekt auf die Federelemente sehr präzise und separat justieren kann. Mit etwas Herumprobieren habe ich so eine Einstellung gefunden, bei der die Gabel quasi dem Dämpfer immer eine Stufe nachhinkt. Im Traction Modus wird so zwar der Dämpfer straff, aber die Gabel reduziert sich in ihrer Sensibilität nicht so sehr. Im Lockout Modus ist die Gabel dann spürbar gedämpft, der Dämpfer aber schon sehr hart – ideal für Wiegetrittattacken und für mich noch sinnvoller wie beide Federelemente parallel zu verhärten.

Als Kritikpunkt muss ich allerdings anmerken, das mir persönlich der Twin-Loc Hebel zu nahe an der Hand steht (siehe oben) und sich weil in die Klemmung des Griffs integriert auch nicht weiter nach innen versetzen lässt. Gerade in heftigerem Gelände fand ich das mitunter schon störend.

Ausstattung: Alles andere an dem Tope-End-Bike funktioniert genau wie erwartet – tadellos und auf höchstem Niveau. Selbst die SHIMANO XTR Bremse, hat nur einen sehr subtil wandernden Druckpunkt, der hier aber kaum negativ auffällt. Der üppigeVerstellweg der Reverb von 150 mm und die sehr niedrige Überstandshöhe sorgen für eine vorbildliche Bewegungsfreiheit auf dem Bike. Selbst der SYNCROS Sattel mit Carongestell ist für meinen Geschmack angenehm. Nur die hauseigenen Griffe sind eine leicht gemischte Angelegenheit – ihr Lamellendesign ist wunderbar griffig und vermittelt im harten Gelände eine gute Dämpfung. beim normalen tourenmäßigen fahren aber fühlen sie sich ein wenig schwammig an.

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Bisher ein wirklich spannender Test auf einem rundum vielseitig-potenten Bike.

Zwischenfazit: Das SCOTT Genius LT Plus Tuned ist derzeit ein Ausnahmebike – mit seinem üppigen Federweg von 160 mm und den Plusreifen ist es derzeit einzigartig. Dazu kommt noch die spezielle Federung mit dem innovativen Nude DPS Dämpfer und dem dreistufigen Twin-Loc Hebel, die zusammen dafür sorgen, dass das Genius LT quasi drei Persönlichkeiten in einem Bike vereint – im Open Modus ein abfahrtshungriges und ungemein potentes All-Mountain/Enduro, im Traction Modus ein waschechtes und genauso universelles Trail- und Tourenbike und im Locked Modus ein sehr straffes Marathonbike (… wenn und auch etwas übergewichtiges :-)).

Soweit zum Zwischenstand dieses spannenden Bikes. In der zweiten Testhälfte wird es noch um die Feinheiten aus dem Zusammenspiel aus Plusreifen und Federung, der ich unter anderem auch dadurch auf den Zahn fühlen will indem ich das Genius LT zum echten 29er umrüste. Ich bin schon gespannt ob und wenn ja, wie sich das auf das Bike als ganzes auswirkt.  Daher demnächst auch hierzu mehr.

RIDE ON,
c_g