NICOLAI G1 29er Rahmen – Praxiserfahrungen: von c_g

Normalerweise nehmen wir uns bei TNI-de ja immer mehrere Artikel Zeit für ein Produkt. Gerade bei komplexeren Bauteilen hat es einen guten Grund, warum wir mit der Dreiteilung aus Intro, Erste Eindrücke und Fazit arbeiten. Auch das NICOLAI G1 wäre ganz sicher ein Kandidat für ein derartiges Vorgehen. Aber aus genannten Gründen (hier) muss ich versuchen alles in einen zusammenfassenden Artikel reinzupacken.

Warum gerade das NICOLAI G1 29 für dieses Abschieds-Testprojekt? Ganz einfach – die pure Neugier auf Extreme. Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Befürwortr progressiver Geometrien bin – für Anfänger genauso wie Experten – und so wir die Tatsache, dass NICOLAI einer der Hersteller, mit den meisten Erfahrungen in diesem Bereich ist, ein wichtiger Grund hierbei. Der Test des NICOLAI G13 29er im Jahr 2016 (!) war hier ein echter Augenöffner für mich. Auch die vielen darauf folgenden NICOLAI-Testbikes und meine Erfahrungen mit dem POLE Evolink 158 EN, das ich in 2019 als Dauertester und Testplattform fahren durfte, haben mich darin nur weiter bestätigt. Daher brüte ich schon lange über der Frage, wie weit man eine solche Idee noch sinnvoll treiben könnte bevor das Bike zu speziell wird.

Das NICOLAI G129er ist – ohne zu viel vorweg zu nehmen – ein Bike nahe an diesem Limit. Es ist in seiner Geometrie noch einen Ticken progressiver (ein 62,5° Lenkwinkel, 78,75° Sitzwinkel und 455 mm Kettenstreben mit resultierendem 1325, Radstand in Größe L), hat mit 162/175 mm Federweg noch mehr Nehmerqualitäten … und außerdem sieht das G1 unfassbar sexy aus! Einzig beim Gewicht liegt der Rahmen mit 3,85 kg (mit Hardware, ohne Dämpfer) ganz auf der „gehaltvolleren“ Seite. Mit einem empfohlenen VK von 2699.- Euro für den nackten Rahmen rangiert das Bike auch zwangsläufig im Premium-Segment.

Beim Aufbau gab es mit dem G1 schon mal keinerlei Auffälligkeiten. Der MADE IN GERMANY Rahmen aus 7020er Alu ist in jedem noch so kleinen Detail sehr durchdacht und äußerst präzise gefertigt ist. Jedes Gewinde war sauber vorgeschnitten, alle Teile genau aufeinander ausgerichtete und jede Passung war super genau … einfach perfekt und ein Musterbeispiel für einen handwerklich erstklassig gefertigten Alu-Rahmen. Positiv ansprechen möchte ich das gerade und kurze Sitzrohr, das auch für ultralange Dropper-Stützen viel Platz lässt und die schrauberfreundliche externe Kabelführung, Die vielen CNC-Frästeile, die geraden Raw-Rohre und die typische Dämpferanordnung im Rahmen geben dem Rahmen seinen eigenständigen Industrie-Look.

Kurzum – das NICOLAI G1 ist schnörkellos, maximal funktionell und damit für mich persönlich schlichtweg ein Traum von einem Rahmen. Mein bisher einziger Kritikpunkt an dem Rahmen ist, dass man darin keine Trinkflasche im Hauptrahmen befestigen kann. Noch vor zwei Jahren wäre das für mich kein Thema gewesen, aber seit es FIDLOCK gibt, beginne ich nämlich auch das mehr und mehr der Trinkblase im Rucksack vorzuziehen. Diese Option bietet das G1 aber mit dem horizontal im Rahmen liegenden Dämpfer aber leider nicht.

Auf die Komponentenauswahl bei dem Aufbau des Bikes muss ich nicht weiter eingehen – der wurde in der Vorstellung ja schon angesprochen und in ein paar Einzeltests noch weiter ausgeführt – mit einem Gesamtgewicht von ca. 16,5 kg(wie vorgestellt, aber ohne Pedale) ist das G1 ganz sicher kein Leichtgewicht …  aber dazu weiter unten noch mehr. Was die Federung angeht, habe ich den Rahmen bisher ausschließlich mit einem passenden MARZOCCHI Bomber CR Stahlfederdämpfer gefahren. Ich hatte zwar versucht noch einen spannenden, erst dieses Jahr vorgestellten anderen Dämpfer zum Test zu bekommen, aber daraus ist wegen Lieferschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Pandemie  leider nichts mehr geworden.

Stattdessen habe ich aber viel mit unterschiedlichen Stahlfedern experimentiert und war ein weiteres Mal verblüfft darüber wie deutlich man sich der Charakter eines Bikes zwischen einer linear und einer progressiv gewickelten Feder ändern lässt: So bietet die linear gewickelten Feder in passender 550 lbs/in Härte neben einem sagenhaften Komfort, einen für mich und meinen Fahrstil sehr angenehmes sattes und gerade noch lebendiges Fahrgefühl mit einer insgesamt unglaublich hohen subjektiven Sicherheit. Ideal für Big-Mountain Abenteuer und Tage im Bikepark, doch leider ist mir diesen herbst genau das komplett versagt geblieben.

Mit der progressiv gewickelten CANE CREEK VALT Stahlfeder, mit 510-600 lbs Federrate fährt sich das G1 dagegen ganz anders. Der SAG liegt damit zwar in einem ähnlichen Bereich aber die Charakteristik des Bikes ist eine spürbar andere – von unten sogar noch ein wenig sensibler aber nach oben hin einen spürbar spürbar aktiveren und spritzigeren Charakter mit viiiiel mehr „Pop“. Allerdings hatte ich auch immer das Gefühl, nur selten den gesamten Federweg je zu nutzen, dafür ist das G1 so etwas trail- und tourentauglicher.

Als ich ganz am Anfang, noch die MARZOCCHI Z1 Coil mit 170 mm darauf gefahren bin, fand ich das Bike mit dem der progressiven Feder am Heck stimmiger, mit der ultrasensiblen ROCK SHOX Lyrik und 180 mm Hub, bevorzuge ich in aktuell eher die lineare Feder am MARZOCCHI Dämpfer. Am Ende ist es sicher eine Sache der persönlichen Vorlieben – es ist aber wichtig zu wissen, dass man auch hier echte Wahlmöglichkeiten hat.

Was die Option angeht, das G1wahlweise mit 162 oder mit 175 mm Federweg zu fahren, bin ich mit beiden Optionen sehr gut zurecht gekommen. Anfangs bin ich das Bike ausschließlich mit 162 mm und später fast nur noch mit 175 mm gefahren. Der Unterschied ist auf meinen Hometrails nur marginal spürbar – sicher weniger  deutlich als etwa der Wechsel zwischen den vorher genannten Federn. Auf sehr langen alpinen Abfahrten, beim Shuttlen oder im Bikepark würde ich jedoch erwarten, dass er deutlicher zutage tritt. Aktuell halte ich es mit der sehr einfachen Federwegsverstellung ziemlich simpel: Wenn beide Settings recht ähnlich sind – warum nicht gleich mit maximalem Federweg fahren?

Bei einer Oberrohrlänge von 642 mm und einem Reach von 512 mm würde natürlich jeder eine eher gestrickte Sitzposition erwarten aber aufgrund des mit 78,75° extrem steilen Sitzwinkels und des superflachen 62,5° Lenkwinkels ist das gar nicht so. Man sitzt statt dessen ziemlich moderat auf dem insgesamt sehr langen Bike. Hinzu kommt, dass ich nach viel Experimentieren mit Vorbaulängen mit recht kurzen 30 mm klar meinen persönlichen Favoriten gefunden habe. Wobei diese aber überhaupt nichts mit der Sitzposition zu tun, sondern vor allem mit dem dann direkteren Lenkverhalten des G1 zusammenhängt.

Kommen wir zum Handling des Bikes auf dem Trail. Hier ist das G1 genau wie es die Zahlen vermuten lassen … ein auf höchste Laufruhe, Fahrstabilität und Sicherheit getrimmtes Bike, ein echtes Race-Enduro. Für dieses Bike ist keine Abfahrt zu steil und kein Wurzelteppich zu ruppig. Hier kann man einfach zentral auf dem Bike stehen bleiben und das Fahrwerk unter sich arbeiten lassen – wie schon vorher beim POLE, nur eben noch etwas gelassener. Je steiler und technischer der Trail und je schneller man sich traut ihn zu fahren, desto mehr spürt man wozu der Rahmen gebaut wurde und erkennt, welche Reserven noch darin stecken. Selbst wenn das Bike in der Kurve mal mit beiden Laufrädern driftet oder das Vorderrad bei Bremsungen ans Limit kommt, vermittelt das G1 eine Ruhe und Sicherheit, die man einfach erleben muss um sie zu erfassen. Dies ist einerseits grandios und zauberte mir dieses Jahr so manches dicke Grinsen ins Gesicht. Es war mir aber zugleich ein dauernder Reminder, dass das Limit dieses Bikes weit jenseits dessen liegt, was ich je ausfahren werde. Es ich habe schon viele 29er Bikes gefahren, aber bisher ganz sicher noch keines, dessen Limit so weit jenseits meiner Risikobereitschaft liegt. Das NICOLAI G1 29er hat voll ausgefahren das Potential zur Waffe – mit hohem Suchtrisiko!

Und genau darin liegt für mich auch die Crux des G1. Auch wenn NICOLAI es auch für Trail-Riding und All-Mountain klassifieziert, ist es für mich doch eher ein Enduro-Racebike und zwar ein reinrassiges. Das G1 braucht technische Trails und hohe Geschwindigkeiten um zum Leben zu erwecken. Auf gerade mal moderaten Trails ist es schlichtweg unterfordert und wirkt ein wenig gelangweilt. Das G1 ist für mich damit aber auch schon schon ganz hart an einem Limit, mit einem Handling dessen Laufruhe und Stabilität schon ein wenig auf die Kosten der Allround-Eigenschaften gehen. Dazu kommt, dass die Lenkung bei langsamer Fahrt schon merklich abknickt – egal ob mit 44 mm oder 51 mm Offset an der Gabel – wie ich beim Test der ROCK SHOX ZEBerleben konnte. Wer also Neutralität erwartet, wird diese beim G1 nicht wirklich erleben.

Daher braucht man auch etwas Eingewöhnung auf das G1. Trotz aller Vorerfahrung mit diversen progressiven Bikes hat es beim G1 eine Weile gedauert, ehe ich mich daran so richtig gewöhnt hatte. Warum genau das so ist, kann ich bis jetzt noch nicht genau sagen. Bis auf ein paar Millimeter mehr Länge hat das G1 gegenüber dem POLE nur noch einen etwas flacheren Lenkwinkel, fährt sich aber trotzdem spürbar anders.

Auf der anderen Seite ist das G1 aber auch das Bike, das selbst steilste Trails hoch klettert, wie kein Anderes. Ja, das Bike ist ziemlich schwer, aber das spielt nur dann eine Rolle, wenn man vor allem auf endlose Forstrassen Höhenmeter sammelt. Auf Trail-Upphils zählen ganz andere Werte und für genau diese liebe das G1 auch bergauf. Wenn es technisch und richtig steil hoch geht ist das G1 ebenfalls in seinem Element. Einfach jeden Trail hoch fahren. Ich habe auf meinen Hometrails eine Auffahrt, die ich mit allen anderen Bikes bestenfalls hin und wieder durchfahren kann – mit dem G1 bin ich diese Auffahrt wirklich jedes Mal anstandslos hochgekommen .. und das auch bie nicht immer optimalen Bedingungen.  Mit grenzwertigem Puls und kurz vor dem Kreislaufkollaps zwar, aber immer mit einem tollen Glücksgefühl!

Dieses extreme Uphill-Potential zeigt, dass es zu einfach wäre das G1 nur als einseitiges Gravity-Bike abzustempeln, denn das ist es nicht – ein universeller Allrounder wird es dadurch aber eben euch nicht. Es ist und bleibt ein Bike für Extrme – mit einem sehr speziellen Charakter. Ein Charakter, der mich sehr oft richtig begeistert, mich manchmal aber eben auch herausfordert .. aber dies Herausforderung nahm ich lieben gerne jeden Tag aufs Neue an!

Um den Charakter des NICOLAI noch etwas besser zu verstehen, habe ich auch auf dem G1 ein wenig mit leichtern Reifen/Laufrädern experimentiert. Dazu habe ich die kürzlich getesteten ONZA Procupine Reifen auf den unverschämt leichten PIROPE Laufrädern irangeschraubt und es so gefahren.  Damit wurde das Bike zwar spürbar leichter (immerhin nur noch 15,2 kg!) und spritziger zu fahren, behielt aber weiterhin seinen Grundcharakter als reinrassiges Race-Enduro bei. Außerdem hat mich das potente Fahrwerk und die subjektive Sicherheit viel zu oft dazu verleitet, das Bike über dem Potential der Reifen zu fahren … mit so manchen spannenden Fahrsituationen als Folge, in denen mich nur die schiere Gelassenheit des Bikes noch gerettet hat.

Zusammenfassung: Das NICOLAI G1 29er ist ein echtes Super-Enduro – ein Bike für technisches Gelände, eine aggressive Fahrweise und hohe Geschwindigkeiten. Es ist nicht gemacht, um damit gemütlich Trails zu surfen… und das spürt man. Im richtigen Gelände und unter dem richtigen Fahrer ist es eines der Bikes, für die ein „Waffe“ uneingeschränkt anwendbar ist. Es vermittelt durch seine Laufruhe und Gelassenheit ein immenses Maß an subjektiver Sicherheit und spornt dazu an, immer mehr ans Limit zu gehen. Auf der anderen Seite des Einsatzspektrums klettert es trotz seines hohen Gewichtes auch steilste Anstiege so sauber und gelassen, wie nur sehr wenige andere Bikes.

Einschränkend zu meinem Urteil muss ich aber ganz offen anmerken, dass ich mit dem NICOLAI G1 bisher nur auf meinen oft steilen, aber nie zu langen Hometrails unterwegs gewesen bin. Ohne ergänzende Erfahrungen auf wirklich langen und fordernden alpinen Abfahrten, Bikeparks oder Enduro-Rennen sammeln konnte – also genau die Einsatzbereiche, für die das Bike ja eigentlich gemacht wurde – ist mein Fazit natürlich nur bedingt aussagekräftig. Ich kann euch aber schon jetzt sagen, dass ich es kaum erwarten kann das NICOLAI in 2021 genau über solche Trails zu jagen.

… und damit beendet TNI-de bis auf weiteres die Berichterstattung. DANKE für eure treue Leserschaft und wir wünschen euch ein GUTES und vor allem GESUNDES NEUES JAHR 2021.

RIDE ON,
c_g