SCHWALBE Procore Doppelkammersystem – ein vorläufiges Fazit: von c_g

0 ProcoreSeit Mai bin ich nun mit dem revolutionären und vieldiskutierten Doppelkammersystem System aus dem Hause SCHWALBE unterwegs, habe es in allen erdenklichen Situationen ausprobiert und beinahe alles damit gemacht, was mir als Tester eingefallen ist. Procore, das ist in der Grundidee nicht viel mehr als ein Reifen im Reifen – der innere mit hohem Druck (4 bis 6 bar) für Durchschlagschutz und um den äußeren Reifen auf der Felge zu fixieren; der äußere mit 0,9 bis 1,5 bar gefahren für schier endlose Traktion, Sicherheit und Komfort. Hört sich bekannt an? Von Plus-Reifen? Ja, in der Tat. Auch wenn die Wege dorthin unterschiedlich sind, auf den ersten Blick sind sich die Fahreigenschaften von Plus-Reifen und mit Procore ausgestatteten Reifen sehr ähnlich. Doch dazu später noch mehr …

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Zuerst einmal zu SCHWALBE’s Procore selber.

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Mit Ausnahme des unauffälligen Spezialventils und des (optionalen) blauen Procore Aufklebers, erkennt man von außen kaum, was da im Innern des Reifens steckt.

MONTAGE/TUBELESS-Eigenschaften: Ich habe das System auf diversen Felgen zwischen 23 und 35 mm Innenweite montiert. Mit ganz wenigen Ausnahmen war der Prozess sehr einfach (bereits hier näher aufgeführt) und das Aufpumpen der tubeless-ready Außenreifen war fast immer schon mit einer kleinen Handpumpe zu machen. Selbst auf eine schwer verdellten Felge, die eigentlich gar nicht mehr tubeless-fähig ist, hat das funktioniert – ein Dank an den aktiv nach außen drückenden Innenreifen. Auch das Wissen, dass der Reifen stets sicher auf der Felge sitzt und Burping quasi nicht mehr vorkommt, hilft dabei gelassener zu biken.

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Procore drückt den Reifen aktiv auf die Felge und erleichtert damit das Tubeless aufpumpen ungemein. Zusätzlich wird der Reifen optimal auf der Felge fixiert.

Allerdings muss ich auch ansprechen, dass es auch einen Fall gab wo der Procore-Innenreifen so straff auf der Felge gesessen ist, dass er ohne Metallreifenheber – ein absolutes No-Go für Carbonfelgen –  nicht möglich gewesen war, das System zu montieren. So auf der DT-SWISS XMC 1200 Felge am PIVOT Mach 429 Trail für das ich eigens einen Procore-Kit in die USA mitgebracht hatte.

–> Wer sich bisher gescheut hat auf Schlauchlos umzurüsten, der wird mit Procore seine helle Freude haben. Das System macht das Thema zum Kinderspiel. Sehr positiv ist, dass Procore für ein großes Spektrum an Felgenbreiten passt, wie aber immer wenn zwei nicht-standartisierte Bauteile zusammenkommen passt auch Procore nicht auf jede Felge.

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So anschmiegsam und damit fraktionsstark wird ein Reifen nur bei wirklich niedrigen Drücken – dank Procore kein Problem.

FAHREINDRÜCKE (Traktion, Sicherheit & Co.): Wer es bisher aus meinen Berichten noch nicht herausgelesen hat – das Doppelkammersystem transformiert jede Bikefederung und jeden Reifen! Allein die Tatsache, dass ich im Außenreifen guten Gewissens Drücke von 1,0 bis 1,2 bar fahren kann, verleiht jedem Reifen eine solche Verformbarkeit, dass kleine Unebenheiten einfach geschluckt werden und der Reifen viel satter aufliegt. Loser Untergrund wie Schotter oder Kies wird so viel gelassener zu fahren. Gerade auf langen und steilen Forststrassenauffahrten, wo es zum Teil schwer ist den Reifen vor dem Durchdrehen zu bewahren, ist es damit um Welten angenehmer, ich würde sogar sagen „effizienter“ zu fahren. Und ruppigem oder rutschigem Gelände nimmt die Traktion und Gutmütigkeit der Reifen ebenfalls exponentiell zu. Man kann plötzlich Linien fahren, die vorher den gleichen Reifen zu gefährlichen Schlitterpartien verleitet hätten. Anders herum wird ein schnellerer und schwächer profilierter Reifen damit sicherer und universeller einsetzbar. Die einzige Schwachstelle was die Performance angeht, konnte ich nur bei sehr hohen Seitenkräften (Landungen auf schrägem Untergrund oder schnelle Anlieger) feststellen, wenn der Reifen doch ungewöhnlich stark walkt. Zu unerwarteten Luftverlusten oder einen kompletten Abknicken des Reifens ist es damit aber nie gekommen.

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Was den Rollwiderstand angeht, ist es nicht zu leugnen, dass man bei derart niedrigen Drücken auf Asphalt und hartem Untergrund mehr leisten muss. Sobald der Boden aber auch nur ansatzweise uneben wird (gilt meinem Empfinden nach bereits auf Forststrassen) überwiegt die Vorteile, indem die Reifen viele Unebenheiten schon im Reifen verschlucken. Außerdem sorgt die optimale Vibrationsdämpfung und unglaubliche Fahrsicherheit dazu, dass man auf dem Bike viel entspannter fährt, was weitere Energie spart. Natürlich lässt sich dieser Effekt auch dazu nutzen auf dem Trail einfach schneller unterwegs zu sein und aggressiver zu fahren … ;-).

–> Wer zum ersten mal mit derart niedrigen Drücken unterwegs ist, wird es vor lauter Verzückung kaum glauben können. Einen solchen Komfort und eine derartige Traktion kannte man vorher nur von Fatbikes und neuerdings von Plus-Bikes – dort aber auch immer gekoppelt mit Kompatibilitätsproblemen und einer eingeschränkten Auswahl an Reifen. Mit einem Doppelkammersystem wie Procore kann man eine sehr ähnliche Fahrperformance mit seinem eigenen Bike erzeugen. Wer sich gerade auf Touren, langen Abfahrten oder groben Trails mehr Komfort, mehr Traktion und mehr Fahrsicherheit gewünscht hat, bekommt mit Procore und Co. das derzeit wohl effektivste Tuning, das man sich wünschen kann.

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MEHRGEWICHT: Es besteht kein Zweifel daran – Procore bringt durch das Mehrgewicht auch einen gravierenden Nachteil ans Bike. Die 250 g mehr pro Reifen spürt man und das lässt sich nicht wegdiskutieren. Demnach wird es sicher Fahrer geben, die es trotz aller anderen Vorteile allein wegen des Gewichts nie verbauen werden. In der Fahrpraxis während des Tests und mit meinem eher touren-lastigen Fahrstil, empfand ich das aber als weit weniger problematisch als angenommen.
Mit Reifen der 700 bis 800 g Klasse, war das Gesamtgewicht letztlich auf dem Niveau eines Enduroreifens (ohne Procore), nur mit insgesamt besseren Ergebnissen in der Fahrperformance. Erst in der allerletzten Testphase mit dem bereits ca. 1000 g schweren CONTI „Der Baron 2.4 Projekt“ erging es mir in Kombination mit Procore so, dass es einfach „zu viel des Guten“ war. Hier habe ich das Gewicht (bei einem gleichzeitigen Übermaß an Traktion und Gutmütigkeit) dann doch als störend empfunden. Bei allen anderen Reifen war mir das bereits nach kurzer Zeit kaum mehr aufgefallen.

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Procore macht aus dem SCHWALBE Rock Razor (hier hinten montiert) einen sehr fähigen und schnellen Allroundreifen.

Das Argument, dass man mit Procore auf leichtere Reifen setzen könne, ist nur zum Teil wahr. Zwar kann damit man sehr wohl auf einen weniger profilierten Reifen setzen (siehe mein Wechsel vom SCHWALBE Nobby Nic 2.35 auf den SCHWALBE Rock Razor 2.35 hinten) und so je nach Reifen ein paar Gramm einsparen, der Weg einen grundsätzlich kleineren Reifen zu fahren, also 2.1“ statt 2,35“, funktioniert aber nur sehr eingeschränkt. Das liegt an der großen Luftkammer von Procore. Mit einem 2.1“ breiten Reifen würde man bei 1,1 bar Reifendruck ständig auf der Innenkammer fahren und so die Vorteile nur bedingt nutzen.

–> Keine Frage – mit ca. 500 g Mehrgewicht außen am Reifen spürt man die Anwesenheit von Procore. Für klassische XC-Racer ist das aktuelle System daher kaum geeignet. Wer aber, wie ich, weniger die Sekunden zählt, sondern die zusätzliche Fahrsicherheit und den unglaublichen Komfort höher bewertet, der wird schnell von Procore überzeugt sein.
Außerdem handelt es sich bei dem aktuellen SCHWALBE Procore gerade erst um die erste Generation eines solchen Systems – ich bin mir sicher, dass es auch hier noch Gewichtseinsparungspotential gibt.

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HERSTELLERFREIGABE – „Reine Formsache … Denkste!“: Und damit kommen wir zur derzeit bittersten Pille, die man als interessierter an Procore zu schlucken hat. Die Herstellerfreigaben. Als ich mich bei SCHWALBE zu dem Thema vor über einem Jahr erkundigt hatte, war die Aussage, dass die Felgen- und Laufradhersteller bereits am Testen wären und es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis die Freigaben rein kämen. Heute ein Jahr später, gibt es weiterhin nur von SYNTACE eine offizielle Freigabe zur Nutzung von Procore auf deren Felgen/Laufrädern. Andere sprechen von “noch fehlenden Erkenntnissen zur Dauerhaltbarkeit“. Wieder andere erwähnen nennenswerte Abweichungen in den Speichenspannungen und potentieller Probleme auf die Laufradfestigkeit und wiederum andere sagen offen, dass sie noch nicht einmal Testmuster hätten um die Auswirkungen des Systems auf ihre Produkte überhaupt zu testen …
Ich für meine Person, kann sagen, dass ich in den bisher 5 Monaten der kontinuierlichen und intensiven Nutzung auf der AMERICAN CLASSIC Wide Lightning noch keinerlei echte Auffälligkeiten bemerkt habe. Und gerade weil die Wide Lightning doch als eine der leichtesten Alufelgen bisher so unproblematisch war, sehe ich das Thema eher gelassen. Außerdem muss man wegen der smarten Spezialventillösung nichts an der Felge verändern (wie etwa bei DEANEASY’s Tube+) was sowohl die Montage wie auch die potentielle Schwächung der Felgen verringert.

–> Fakt ist, wer derzeit Procore montiert, verzichtet auf die Herstellergarantie. Dem einen dürfte das egal sein, denn die offensichtlichen Vorteile sind einfach zu verlockend. Für andere aber ist das eine gewichtige Hürde, die es Procore sicher nicht leicht machen wird sich auf dem Markt zu etablieren.

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Auch auf alpinen Touren hat sich das System bestens bewährt.

Gesamtfazit: Procore als Doppelkammersystem ist im Grundkonzept ein Quantensprung in Sachen Fahrperformance und ich bin fast versucht es in einem Atemzug mit Innovationen wie den Klickpedalen, Scheibenbremsen oder Federgabeln zu nennen – so groß ist der Nutzeffekt für den Biker. Es fördert alle positiven Eigenschaften eines Reifens – erhöht die Pannensicherheit, macht Tubeless endlich montagefreundlich, bringt mehr Traktion, Fahrsicherheit und Komfort und ist damit für mich ein echter Garant für mehr Fahrspaß auf dem Trail. Wer es an seinem Bike montiert wird mit hoher Wahrscheinlichkeit begeistert sein.
Allerdings bringt es in seiner aktuellen Ausführung auch ein gehöriges Mehrgewicht ans Bike und ist derzeit von fast keinem Hersteller offiziell freigegeben. Zwei gravierende Probleme die nicht weg zu diskutieren sind und eine Kaufentscheidung derzeit noch erschweren. Den Preis von 195.- Euro sehe ich weniger als ein echtes Problem an, denn dazu sind die Vorteile in der Praxis einfach zu großartig und das System zu universell einsetzbar.
Doch wie alle wirklichen Innovationen wäre es naiv zu denken, dass etwas so innovatives von Anfang an perfekt sein kann. Ich selber hoffe sehr darauf, dass es in Zukunft immer mehr Herstellerfreigaben geben wird und dass der Gewichtsnachteil mit weiteren Produktgenerationen deutlich schrumpft. Dann prophezeie ich den Procore &Co. Doppelkammersystemen eine goldene Zukunft.

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AUSBLICK: Somit ist zwar der eigentliche Test von SCHWALBE’s Doppelkammersystem Procore zu Ende, aber wie eingangs erwähnt sind damit noch nicht alle Fragen in diesem Zusammenhang beantwortet. „Wie sieht zum Beispiel ein direkter Vergleich zu dem aufstrebenden Plus-Format aus?
Außerdem hat der jüngst begonnene Test des CONTI „Der Baron 2.4 Projekt“ eine weitere Frage aufgeworfen: „Wenn ich mit einem 700-800 g Reifen Plus Procore schon ein Reifen-Systemgewicht von ca. 100 g in Kauf nehme, wie sieht dann der direkte Vergleich zu einem modernen Enduro-Reifen der gleichen Gewichtsklasse aus?“ Beides absolut legitime Fragen denen wir in den nächsten Monaten ebenfalls nachgehen werden … sobald das passende Testmaterial bei uns eintrifft.

RIDE ON,
c_g